Normopathen

In dem Buch „Irre!“, das ich gerade lesen, benutzt der Autor Manfred Lütz das Wort „Normopathen“ und liefert die Definition gleich mit: „Normopathen nennt man mit leichter Ironie Menschen, die so wahnsinnig normal sind, dass es wehtut. Wenigstens der Umgebung […] Bei solchen Menschen, denen es wichtig ist, alles immer richtig zu machen und die nie falsch parken, kommt einfach keine Stimmung auf…

Manfred Lütz muss es wissen. Denn er ist Psychiater und kennt die Stimmungen derjenigen, die sich anders fühlen als andere. Ich würde sogar behaupten, dass Lütz sich als Anwalt der „Verrückten“ fühlt und die für "unnormal" hält, die sich für „sehr normal“ halten.

Noch mehr Normopathen machen das Leben nur noch grauer. Menschen, die nicht „Ja!“ und nicht „Nein!“ sagen können, sondern nur mit schräg gehaltenem Kopf „Vielleicht…“ nuscheln. Menschen, die mit jeder Silbe verbreiten: „Mach es so wie ich, dann machst du es richtig!“. Menschen, die Menschen nicht mehr wie Menschen begegnen, sondern sie wie Spielfiguren behandeln. Die Botschaft von Lütz ist klar: Normal und verrückt ist eine Frage des Blickwinkels.

Ich halte es auch für ungesund, zu viel Zeit und Energie darauf zu verwenden, sich an „die Norm“ anzupassen. Denn meist führt die Konzentration auf die Anpassung und damit Selbstverleugnung zur Übertreibung. Diese Art der Perfektion macht innerlich unfrei und wirkt auf den, der genauer hinschaut, nicht ganz normal.

Vorgestern im Café griff mir eine Frau von hinten über die Schulter, um sich die Serviettenbox direkt neben mir zu schnappen. Ich reagierte etwas unwirsch, weil sie so unangekündigt meine persönliche Distanzgrenze überschritt. Wofür die Dame die Servietten brauchte, konnte ich durch die Spiegelung der Fensterscheibe beobachten: Sie wischte mit der ersten Serviette den Tisch ab, mit der zweiten den Kaffeelöffel, mit einer dritten die Untertasse und so weiter. Es dauerte etwa fünf Minuten, bis sie ihren Milchkaffee trinken und ihr Schoko-Croissant essen konnte. Jedes Mal, bevor sie ins Croissant biss, putze sie sich mit derselben Serviette die Nase.

Sehr wahrscheinlich ist es ein großer Therapieerfolg, dass die Dame außer Haus Frühstücken geht. Bevor ich ging, habe ich mich freundlich von ihr verabschiedet, weil es mir leidtat, dass ich so wortkarg war.

Sie hat freundlich gelacht.

>> Wikipedia-Definition Normopathie
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Initialer Text: 17.01.2010
Überarbeitet: 29.04.2018

Yvonne Grünenwald